
In diesem Sommer vor 120 Jahren, am 8. Juni 1899, kam die österreichische Schauspielerin Alma Seidler in Leoben (Steiermark) zur Welt. Sie war beinahe durch ihre gesamte, beinahe sechs Jahrzehnte währende Schauspielkarriere Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, ist jedoch außerhalb Österreichs kaum bekannt. Der Wiener Historiker Bernhard A. Macek hat Seidler, die bereits im Dezember 1977 verstarb, nun eine Biographie gewidmet: Alma Seidler. “Österreichs Jahrhundertschauspielerin”. Reich an Quellen und Anekdoten, ist das in einem sehr persönlichen Gestus verfasste Porträt auch ein Einblick in die politisch und historisch einschneidenden Stationen und kulturpolitisch bedeutsamen Phasen des 20. Jahrhunderts.
Anlass für Macek, – seit 2001 in der Wiener Hofburg tätig (zuständig für die Kaiserapartments, das Sisi Museum und Silberkammer) sowie Leiter des Fachreferats Wiener Stadtgeschichte des Österreichischen Archäologen Bundes –, diese 316 Seite starke Biographie Alma Seidlers anzugehen, war die Überlassung von Dokumenten aus dem Nachlass Seidlers durch deren Vertraute Edith Sonka. In seiner Danksagung hebt er deren Initiative hervor, ohne die „dieses Buch nie zustande gekommen“ wäre (S.6).
Seine Schrift orientiert sich eng an überlieferten Quellenmaterialien, darunter Fotos, Briefe und Aufzeichnungen von Alma Seidler sowie Interviews mit Zeitgenossen der Künstlerin. Zu den konsultierten und ausgewerteten Repositorien gehören unter anderen das Filmarchiv Austria, das Archiv des ORF, die Österreichische Nationalbibliothek, das Österreichische Staatsarchiv, das Theatermuseum der Universität Wien, die Österreichische Mediathek sowie Privatarchive. Das Buch beleuchtet die Kindheit und ersten Bühnenjahre Alma Seidlers, gewährt Einblick in ihre Ehe mit dem Schauspieler Karl Eidlitz und ihre Familie und vergegenwärtigt ihre vor allem zwischen den beiden Weltkriegen gespielten Aufführungen und Erfolge vor dem beinahe ausschließlich österreichischen Publikum. Von wenigen Gastspielen abgesehen, spielte sie überwiegend auf den Bühnen Wiens (darunter Volksoper Wien, wo sie ihre Karriere begann, Akademietheater, Schönbrunner Schlosstheater, Ronacher, Redoutensaal der Hofburg, Theater an der Wien, Theater in der Josefstadt, Volkstheater); in den 1950er Jahren trat sie zudem bei den Bregenzer und Salzburger Festspielen auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Seidler vermehrt auch für den Film. Bernhard Macek schildert diese Stationen entlang der Materialien, Spielpläne, Zeitungsnotizen, O-Töne und Anekdoten. Das Buch versammelt zahlreiche, (zum Teil beeindruckend künstlerische) Fotografien, die die Schauspielerin in beruflichen und privaten Kontexten zeigen, die jedoch leider nur selten in die Schilderungen argumentativ eingeflochten und genauer und kritisch in Augenschein genommen werden.

Der in seiner zeithistorischen Lupe sicherlich wertvollste Abschnitt der Biographie ist die Sektion „Schwere Zeiten im Dritten Reich“. Hier wird einmal mehr deutlich und anschaulich nachgezeichnet, welche Auswirkungen Adolf Hitlers Einmarsch in Österreich (seine Rede auf dem Heldenplatz am 12. März 1938 bedeutete eine Zäsur) und die anschließende Machtergreifung der Nationalsozialisten auch auf die Bühnenpraxis und den beruflichen Alltag und Lebensweg der am Theater Beschäftigten hatten.
Seidlers Mann Karl Eidlitz ging aufgrund seiner jüdischen Herkunft ins Schweizer Exil; Seidler blieb in Wien und bekam – trotz ihrer Ehe mit einem Juden – eine Sondergenehmigung am Burgtheater. Wie alle Bühnen Wiens wurde auch die Burg Gegenstand radikaler Umstrukturierungen, personeller Degradierungen und Entlassungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Seidler, wie Macek in einer ausführlichen Filmographie mit Skizzen zum jeweiligen Filminhalt wissen lässt, immer wieder kleinere Filmrollen an. Bereits 1919 hatte sie eine erste Partie im Stummfilm Brand, bis zum Ende des Krieges fokussierte sie sich jedoch vornehmlich auf die Bühnenarbeit. Macek vermutet, dass ihre gesteigerte Filmtätigkeit nach 1944 mit der von Goebbels verhängten Theatersperre zusammen hing; im selben Jahr war sie in die Dreharbeiten für Wo ist Herr Belling? eingebunden.

Daneben agierte sie in Lesungen für die Bühne, Rundfunk und sprach Hörspiele ein. Auch als Theaterpädagogin war sie gelegentlich aktiv, wie Macek informiert; so hielt sie Gastvorträge in der 1927 von Paul Kalbeck und Hans Thimig gegründeten „Neuen Schule für dramatischen Unterricht“ hielt oder der Schauspielschülerin Christiane Hörbiger, Tochter Paula Wesselys, Unterricht erteilte.
Alma Seidlers nahezu lückenlose Bühnentätigkeit wurde mit zahlreichen Auszeichnungen honoriert: 1959 etwa feierte das Burgtheater ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum, im gleichen Jahr erhielt sie die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien. Am 4. Mai 1977, wenige Monate vor ihrem Tode, wurde ihr das Große Silberne Ehrenzeichen des Landes Wien zuteil. Ein Porträt Alma Seidlers, gefertigt von Adolf von Dobner, wurde am 7. Dezember 1978 in die Ehrengalerie des Burgtheaters aufgenommen; Als Antwort auf den nur männlichen Darstellern vorbehaltenen Iffland-Ring initiierte die österreichische Bundesregierung den „Alma-Seidler-Ring“, dessen erste Honorarin Paul Wessely 1979, selbst enge Kollegin Seidlers wurde. ihr Geburtstort Leoben widmete der Schauspielerin 1996 eine Straße, die Alma Seidler-Straße, Wien eröffnete im Jahre 2000 den „Alma-Seidler-Weg“
Die Stärke von Maceks Biographie Alma Seidlers birgt auch Schwächen: der Autor liest und zeichnet den Lebensweg der Actrice eng am überlieferten Textmaterial, an Verzeichnissen sowie Stimmen von Zeitgenossen und Anekdoten, wie sie die Theaterwelt zuhauf bereit hält. Dadurch legt er zahlreiche interessante Details über Seidler, aber auch den weiteren Theaterkontext ihrer Berufsjahre vor. Diese enge Orientierung führt einerseits eng an die Person/ Persönlichkeit Alma Seidlers heran; sie birgt aber andererseits auch die Gefahr der Distanzlosigkeit zwischen Autor und Porträtierter (wie sie im Besonderen im Genre der Schauspielerbiographien so häufig anzutreffen ist). So tritt an die Stelle einer reflektierten Schilderung ihres beruflichen Lebenswegs allzu häufig ein sich-Einfühlen und liebevoll Huldigen Alma Seidlers, das den Historiker Macek gelegentlich ins Plaudern und Spekulieren geraten lässt. Das ist legitim für eine Leserschaft, die das Anekdotische liebt; es nimmt dem Buch aber eine historisch-kritische Perspektive auf Biographisches, die – gerade wegen der reichen Materialien und der Figur Seidlers als bis dato in der Sekundärliteratur nur marginal repräsentierten Vertreterin einer Schauspielergeneration politischer Zeitenwenden des 20. Jahrhunderts –, dem informationsreichen Buch einen zusätzlichen Mehrwert verliehen hätte. Die Darstellung ist wegen der guten Belege beeindruckend lückenlos; hin und wieder verführt die Materiallage jedoch zu einer zu chronologischen Auflistung der künstlerischen und privaten Etappen.
Alma Seidler sei ein “funkelnder Diamant auf und hinter der Bühne des Burgtheaters” gewesen, formuliert Macek resümierend (S. 261) in seinem Buch, das die “Österreichische Jahrhundertschauspielerin”, so der Untertitel, auf ihrem Lebensweg verfolgt. Ob sie auch Ecken und Kanten hatte? Scheiterte? Welche anderen Facetten ihr wohl zueigen waren? Sie sich stets harmonisch den äußeren Umständen fügte? Es wäre ungleich interessanter, mehr über solcherart Lichtbrechungen zu erfahren. Vielleicht im nächsten Buch; die Grundlagen sind nun im jüngsten geschaffen.