Gedanken zu Wolfgang Schmidbauers Buch Die Kunst der Reparatur (2020)

Neulich saß ich mit einem Freund, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, in einem Café. Wir erinnerten uns an alte Zeiten und tauschten Aktuelles aus. Plötzlich blieb sein Blick auf meiner Schulter haften. „Ich weiß, mein Shirt hat ein Loch. Ich muss es flicken, bin aber noch nicht dazu gekommen“. Sein Blick verriet, dass er das kleine Loch entdeckt hatte. „Du flickst Deine Kleider?“, fragte er erstaunt. „Ja, gelegentlich mache ich das; ich mag das Shirt, es wegzuwerfen wäre zu schade.“ Das Loch war an der Naht. Es zu nähen, würde ein Klacks. Er fand es „krass, dass es so was noch gibt.“ So was wie die Reparatur eines Kleidungsstücks, war damit gemeint. Ich fand eher krass, dass man das krass finden kann. Wir sind beide nicht besonders alt, und es kommt mir vor als sei es gestern gewesen, dass unsere Kinderhosen eigentlich immer vom Hinfallen oder Klettern oder Radfahren irgendwo ein kleineres oder größeres Loch hatten. Und dass es total normal war, die Löcher zu stopfen und dann einen bunten Flicken darüber zu nähen. Eigentlich war es eher schräg, wenn man als Kind keine geflickten Hosen oder Pullis hatte. Die Flicken gab es sogar als Gimmick in Kinderzeitschriften, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht.
Von der globalen sozioökologischen Katastrophe, die die Textilindustrie bis zu unserem Erwachsenenalter erzeugt haben würde, wussten wir damals noch nicht viel. Wie viele Tonnen Kleidung tagtäglich verbrannt werden, weil sie nicht mehr getragen werden, sei es aus Gründen Ihres Zustands, der Ästhetik oder schlicht wegen übler Überproduktion, konnten wir uns nicht vorstellen. Es war auch kein großes Thema. Heute sind wir täglich damit konfrontiert. Die Mehrheit von uns, wage ich zu behaupten, trägt auch durch ihr Konsumverhalten dazu bei. Bei vollem Bewusstsein. Kleidung ist nur ein Terrain, auf dem unser Verhalten eher zerstörend als bewahrend wirkt, weil wir das Neueste, Beste, Angesagteste, mehr Leistung, mehr Prestige anstreben – und fleißig produziert wird; weil das Erstrebte immer so schön greifbar nah und käuflich ist. Es ist leichter, ein neues Handy zu kaufen, als das alte in Reparatur zu schicken. Hat mein Computer einen Defekt, überlege ich mir angesichts der Kosten ernsthaft, ob ich nicht doch eher einen neuen kaufe –, der dann auch noch mehr Leistung bringt. Leckt meine Waschmaschine, kostet deren Reparatur nicht selten die Hälfte des ursprünglichen Kaufpreises.

Wir leben in einer Zeit der Reparaturfeindlichkeit. Wie oft ist es mir schon passiert, dass ein defekter Gegenstand unbrauchbar wurde. Eine Reparatur war in der Produktion nie angedacht. Etwas zu reparieren ist eine Frage des Könnens. Es ist aber auch eine Frage der Möglichkeit. Reparieren heißt wörtlich ‘wieder herstellen, aufbereiten‘. Indem wir reparieren, bringen wir etwas wieder in den Ausgangszustand. Es kann aber auch sein, dass im Prozess der Reparatur (unerwartet) etwas Neues entsteht, etwas Ergänzendes oder Veränderndes. Reparieren kann damit auch ein kreativer Vorgang sein.
„Die Kultur der Reparatur“, so schreibt der Psychologe Wolfgang Schmidbauer in seinem jüngst erschienenen Buch Die Kunst der Reparatur (2020), „ist viel älter als die Zivilisation. Vor der modernen Konsumgesellschaft war es selbstverständlich, Dinge neugierig auseinanderzunehmen, sie zu erforschen und sie den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Ohne diese Haltung gäbe es die technische Entwicklung nicht. Wenn etwas nicht funktionierte, wurde es zerlegt, erforscht, verändert und neu zusammengesetzt.“ (S. 8). Wolfgang Schmidbauer hat bereits in den siebziger Jahren mit seiner Schrift Homo Consumens. Der Kult des Überflusses dem Konsumverzicht das Wort geredet. (Ich las das Buch als Teenager, es hat mein Denken mitgeprägt in einem Alter, in dem ich dann auch keine Flicken mehr auf meinen Hosen trug, sie waren uncool geworden). Damals habe er für dieses Buch über den Abschied von der Verschwendungswirtschaft so viel Polemik kassieren müssen, wie für keine andere seiner Schriften, lässt er wissen (S. 16). Jetzt, 2020, legt er mit der Kunst der Reparatur ein Buch vor, das Rückblick ist und Ausblick, Bestandsaufnahme mit Memoirencharakter, ein praktischer Ratgeber wie ein Katalog von Fragen. Ein wichtiges Feld für Schmidbauer war und bleiben auch in diesem neuesten Buch der Konsum und seine fatalen Folgen. Psychologie ist Schmidbauers Fach. Und so liest er auch die Reparatur auf psychologischer Ebene: als Reparatur von Störungen des Selbstgefühls, in Bezug auf die Beziehung zwischen Partnern, Mitmenschen oder Dingen, unseren Planeten.
Was befähigt Menschen, wertvolle Beziehungen aufzubauen? Empathie, Einsicht, Verlässlichkeit, Geduld, so Schmidbauer; bei Konflikt oder in Unsicherheit innezuhalten und nach konstruktiven Lösungen zu suchen, anstatt gleich alles hinzuwerfen. Salopp gesagt: nicht ‚Ex-und-Hopp‘, sondern Reparatur im bestmöglichen Maß ist der Schlüssel. Die „seelischen Grundlagen der Kunst der Reparatur […] verlangsamen die achtlose Trennung, die Preisgabe einer Beziehung beim ersten Konflikt“, formuliert er. (S. 24f.)
Die „Kunst der Reparatur“ erörtert Schmidbauer in 16 kurzen Kapiteln, die alle eine eigene Handschrift tragen und dadurch stellenweise unzusammenhängend anmuten. Mal geht es um praktische Reparaturen von Alltagsgegenständen oder Schmidbauers eigenes Steinhaus in Italien, charmant beschrieben und fotografisch bebildert; mal um Fallbeispiele aus Schmidbauers privatem Leben oder seiner Praxis als Psychotherapeut. Die Reparaturen am Objekt sind jedoch stets Ausgangspunkt weiter greifender Ideen des Wiederherstellens, der Konsumkritik, Kritik an der übergriffigen Macht der Werbeindustrie, der Ökonomie und Politik.
Die Kunst der Selbst-Reparatur zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch. Einen Gegenstand, aber auch sich selbst „reparieren“ zu können, setzt ein Verstehen voraus. Schmidbauer hält dazu an, eine Balance zu finden zwischen blinder Expertenhörigkeit und Nachlässigkeit im Umgang mit sich selbst. Regeneration und Selbstreparatur sind in der menschlichen Natur angelegt. Die Kunst des Reparierens bringt auch Freude und Entdeckerlust: Im Angesicht des Unvollkommenen kann ein kreativer Prozess in Gang gesetzt werden, der spielerische Qualitäten haben kann. Kreativität ist für Schmidbauer Lebenssinn. Dieser kreative Umgang mit dem Unzulänglichen gehört zum menschlichen Lebenszyklus, argumentiert er. Wir tendieren dazu, dies zu vergessen angesichts techno-optimierter Bilder und Realitäten, die uns permanent ‚Defizite‘ einreden, uns zur Selbst-Optimierung ermuntern wollen.

Ein Pfund und Appell des Buches ist das letzte Kapitel, „Auf dem Weg zur Ökotherapie“. Hier bündelt Schmidbauer alle Erfahrung, alles Kontextwissen, sein Querdenken zwischen Psychologie, Konsumkritik, handwerklicher Praxis und politischem Wissen, allen Frust, alle Hoffnungen. Und es wird deutlich, wie und in welchem gigantischen Ausmaß die auf den 160 Seiten zuvor gelegentlich randomisiert zusammengestellten Abschnitte dann doch ein großes Geflecht bilden. Eine Kunst der Reparatur ist und wirkt holistisch und kann auch nur (noch) ganzheitlich vollzogen werden.
Es ist kurz nach 12, das ist die Botschaft Schmidbauers, und wenn wir hier noch was wollen wollen auf diesem Planeten, sind wir gut beraten zusammenzuarbeiten, Rivalitäten abzuschaffen, zwischen den Individuen ebenso wie zwischen den Nationen:
„Eine Stadt, die alle Rohstoffe wiederverwertet und ausschließlich mit erneuerbaren Energien funktioniert, mit Solaranlagen, Windrändern, grünen Wegen für Lastfahrräder, ohne den Lärm und Gestank der Explosionsmotoren, können wir uns malen wie das wiedergefundene Paradies. Vorher müssten wir aber die Rivalität der Nationen und der Konfessionen überwinden, die sich der gemeinsamen Aufgabe in den Weg stellt, den Planeten nicht durch unbegrenztes Wachstum der Bevölkerungen zu zerstören.“ (S. 176f.)
Reparieren Können setzt Verstehen voraus und einen reflektierten Umgang mit sich, den Dingen, den Nächsten. Nach dem Treffen mit meinem Bekannten setzte ich mich hin und nähte die Naht. Das war nicht schwer. Trotzdem machte mich der kleine Eingriff friedlich und, ja, auch ein wenig stolz. Ich hatte des Gefühl, mit meiner kleinen Naht am Stoff auch ein Stückchen Erdenteppich heil geflickt zu haben.
Nicht alle Reparatur gelingt mit so einfachen Mitteln. Es beruhigt aber und ermutigt, dass die Kunst der Reparatur in uns allen angelegt ist. Jede/r von uns hat die Kompetenz des (Wieder-)Herstellens von Dingen, Beziehungen, unseres Selbst. Wir sollten sie fortan häufiger anwenden. Täglich, privatim und gemeinsam. Zusammen Künstlerinnen und Künstler sein.
Im Dienste der Reparatur als Kunst für morgen.
Liebe Nic ,
Ich war soo überwältigt von der Arbeit ,das ich dir es sagen muss. Die Bilder waren soo toll und soo einzigartig, und im Text war alles echt fasziniert.
Liebe Marsa, ich danke Dir sehr für Deinen schönen Kommentar. Toll ist, dass Du mit Deinen 10 Jahren den Text liest und kommentierst, klasse!