Der erste Corona infizierte Hund Münchens… Ein wuscheliger, leicht angegrauter Genosse schaffte es kürzlich auf die Titelseite einer Münchner Lokalzeitung. ‘Nun also auch Bayerns Hunde’, dachte ich. – Eine Woche später aber machte dieselbe Tageszeitung mit einem Foto aus einem Klassenzimmer auf: Schulkinder in Masken drückten die Schulbank, eine stolze Dogge (ohne Maske ?!) hockte neben einer Schülerin in der ersten Reihe: ‘Corona-Krise – Hunde als Therapeuten in der Schule?‘ war das Thema dieses Aufmachers. Gestern pfui, heute hui? Heute hü, morgen hott… Die Welt dreht sich einfach schneller in Newsland, auch in Corona-Zeiten.
Wenn ich spazieren gehe oder an der Ampel stehe, rutscht mein Blick automatisch auf die Zeitungskästen der lokalen Zeitungen. Er entgleitet mir schier. Süddeutsche, tz, BILD, Abendzeitung, gelegentlich auch der blaue Kasten der FAZ. Ein Augenschlag, und ich bekomme die Aufmacher des Tages, einen Pressespiegel in a nutshell. Fake oder true, ob ich will oder nicht. Auf den Bahnsteigen der Öffentlichen flimmern Werbevideos und Kurznachrichten, die Fahrzeuge selbst sind neuerdings mit so genannten “Schaufenstern” ausgestattet, Bildschirmen, auf denen alles Mögliche zu lesen ist, während der Zug die Passagiere von A nach B tuckert. Sollte es wirklich dazu kommen, dass man uns jetzt eine Schweigepflicht in Bus und Bahn auferlegt, ist jedweder zwischenmenschliche Dialog, der das Bahnfahren früher auch zu einer geselligen Angelegenheit machen konnte, endgültig passé. Augen zu? Bleibt das Handy. Mein neues Phone hält serienmäßig, ohne dass ich je danach gefragt hätte, die stündlichen News bereit, “Wichtige” Schlagzeilen von Stunde und Tag – beziehungsweise das, was solcherart etikettiert wird. Zum Glück lassen sich die Meldungen deaktivieren.
Wenn es an einem keinen Mangel gibt im heutigen Alltag, dann sind das News. Gefilterte Informationen, Schlagzeilen der Welt in Häppchengröße, leicht eingängig, aber nicht immer leicht verdaulich. Fake oder true, ob ich will oder nicht: Flattern News in meine Augen, halten sie mein Gehirn beschäftigt; selbst wenn mich die News nicht tangieren oder interessieren, ist doch auch diese Bewertung das Resultat einer Rechenleistung in meinem Kopf.
Was wäre denn, ich würde den News entgehen, die Möglichkeit schaffen, ihnen zu entkommen, sie zu ignorieren? Dann wäre sehr viel Platz und Zeit für wirklich Tiefgründiges, zum besonnenen Nachdenken, Verfolgen einer Idee – oder einfach nur Raum für Ruhe. Nichts denken – höchste Übung der Meditation. Gedankenstille. …
Vor einigen Jahren machten die Publikationen Die Kunst des klaren Denkens und Die Kunst des klugen Handelns des Schweizer Autors Rolf Dobelli die Runde. Ich hörte sie als Audio Books auf langen Läufen und integrierte den einen oder anderen Gedankenanstoß gerne in meinen Alltag. Ich erinnere mich, dass es in einem der Bücher schon um den News-Verzicht, den bewussten Umgang mit Nachrichten, ging; er schien Dobelli schon damals spürbar ein Anliegen zu sein. Diesem Aspekt widmete er nun kürzlich ein eigenes Buch, Die Kunst des digitalen Lebens. Es trägt den erläuternden Untertitel “Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern”. Ich muss an den Corona-Hund und die News vom Therapie-Hund im Klassenzimmer denken. Dobellis Buch ein Buch zur Stunde?
“99,9 Prozent aller News liegen außerhalb Ihres Einflussbereichs. Sie haben keine Macht darüber, was wo wie auf der Welt passiert. Es ist viel vernünftiger, Ihre Kraft auf die Dinge zu lenken, die Sie beeinflussen können.” (Dobelli, Kunst des digitalen Lebens, 175)
Seit zehn Jahren nun schon verzichte er auf News und führe seither ein besseres Leben, ausgezeichnet durch mehr inneren Frieden, Lebensqualität, Ausgeglichenheit, bekennt Dobelli. Das klingt verheißungsvoll. Schon das Inhaltsverzeichnis der Kunst des digitalen Lebens liest sich wie ein Ratgeber zur Sucht-Entwöhnung. News sieht Dobelli vor allem als “irrelevant”, “Zeitverschwendung” und “toxisch” an, als “Gift für den Körper”.
News, so die Kapitelüberschriften,
- schränken das Verständnis ein
- bestätigen unsere Irrtümer
- verändern unser Gehirn
- machen uns passiv
- werden von Journalisten gemacht
- manipulieren
- töten die Kreativität
- zerstören die Seelenruhe
- …
“In den letzten zwanzig Jahren, mit der Etablierung des Smartphones, hat sich die Sucht nach News zu einer gefährlichen Manie entwickelt. […] Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Einstellung zur News-Flut überdenken. Es ist höchste Zeit, dass wir die Auswirkungen des News-Konsums erkennen und eine Detox-Kur einleiten.”
Dobelli, Die Kunst des digitalen Lebens (2020, 24)
Harter Tobak, auf den ersten Blick. Aber wenn man sich auf Dobellis Ausführungen einlässt, sich die Zeit und Ruhe nimmt, ihm auf den 245 Seiten zu folgen, werden seine harten Zuschreibungen stichhaltig, ergibt seine radikale Abkehr von News einen Sinn. In den ersten Kapiteln geleitet Dobelli die Leser durch eine 30 Tages-Kur, einen ersten Entzug von News, deren Impakt er mit den Wirkungen von Fast Food gleichsetzt: News seien für unseren Geist wie Zucker für unseren Körper, seien leicht verdaulich ob ihrer Kürze und “höchst schädlich”. 30 Tage ohne, und die ersten positiven Veränderungen stellten sich ein: “ein erstes Gefühl von Gelassenheit und innerer Ruhe, […] viel mehr Zeit”, eine höhere Konzentration und ein besseres Weltverständnis (31). Dobelli probiert den Verzicht seit Jahren, es ist jedoch nicht so, dass er sich die Wirkungen ausgedacht hätte. Jedes seiner Argumente belegt er mit psychologischen oder wissenschaftlichen Studien, referiert pflichtbewusst auf Arbeiten zum Thema.
Wer sich sorge, durch den Verzicht auf News kein politisch denkender Mensch mehr zu sein, den beruhigt Dobelli mit einem ausführlichen Exkurs in den Zusammenhang von Politik, Intellektualismus und Medien, Epochen und Länder übergreifend. Ein ausführliches Gespräch, auch unter disparat Denkenden, sei mehr wert als der Konsum von News, auch wenn sich damit kein Geld machen lasse (Ökonomie als Hauptmotor für News, was sonst…). Und um Gewissen und auch Informationshunger zu beruhigen, sei es durchaus empfehlenswert, Wochenrückschauen ausgewählter Zeitungen und Wochenmagazine zu lesen. Überhaupt bricht der Autor eine Lanze für investigativen und erklärenden Journalismus. Der jedoch erfordere Zeilen und Zeit – das Gegenteil also von News-Feeds, den Schlag-Zeilen.
Vier Trends hält Dobelli in Die Kunst des digitalen Lebens fest; sie sind ebenso realistisch und nachvollziehbar wie beunruhigend: In Kürze: 1) Die News-Flut nimmt exponentiell zu; 2) News umgeben uns immer und überall; 3) Algorithmen verstehen uns immer besser; 4) News lösen sich zunehmend von der Wahrheit ab.
“Die Gefahr steigt, dass News unsere Gedanken noch völlig zu Brei machen. Die News-Flut rollt in neuen und immer größeren Wellen an. Steigen Sie aus, solange Sie noch die Kraft dazu haben. Die Zeit drängt.” (198)
Dobelli, Die Kunst des digitalen Lebens (2020, 198)
News-Verzicht ist unmoralisch und steht der Demokratie zuwider? Nun, ich sehe es so: diese Trends wahrzunehmen und ihnen idealiter durch einen veränderten Nachrichtenkonsum gegenzusteuern, sind allein schon eine politische Agenda; Gesprächsbedarf schüren und befriedigen menschliche Anliegen. Dobellis Publikation ein Buch der Stunde? In jedem Fall. Und eine Leseempfehlung anstatt.
Thx for this review, Nic!
The essence of this book seems to be:
Give up reading or listening to news. Use the time you have saved for a more useful occupation.
However I enjoy reading a newspaper. Sometimes I find it stimulating.
I guess I don’t feel like giving it up after having read this book…
Should I spend my time reading this book instead of reading a newspaper??? 🤔
Dear Inge, thank you for the response. I have been asked that question on other platforms, too. The author, Dobelli, indeed recommends to read newspapers, yet selected ones, and preferably weekly papers. What he means by “news” is thrilling and alarming headlines sent to readers and subscribers (willingly and unwillingly) to News Feeds on electronic devices such as smartphones or i-pads – not “news” in the sense of “Nachrichten” in general. It is these headlines and short messages that stimulate our brain whether we want it or not and that might lead to depression and bad feelings (for we can not interfere), as the author has it. Dobelli explicitly recommends to meet people for a good chat and to consult well researched articles in weekly papers. To his opinion, this is worth more than getting hourly messages you did not ask for. I hope I could help answering your question. Warm regards, Nic